Ich habe eine vielfältige MSC wahrgenommen:
1. Die MSC als Hochamt militärischer Sicherheitslogik
Einerseits wirkte die aktuelle MSC als Hochamt militärischer Sicherheitslogik. Uniformierte Bundeswehrsoldat*innen prägten das Bild, auch Dr. Benedikt Franke, der stellv. Vorsitzende und CEO der MSC, trug die ersten zwei Tage Uniform. In den aktuellen Kriegszeiten strahlten viele Teilnehmer*innen oberflächlich die verstärkte Gewissheit aus, dass allein militärische Stärke und Solidarität Sicherheit garantiere.
„Die transatlantischen Partner haben keine andere Wahl, als mehr in Verteidigung und militärische Abschreckung zu investieren und gleichzeitig Kooperation zum gegenseitigen Nutzen stärker auf politisch gleichgesinnte Staaten zu beschränken“ – diese Aussage des Vorsitzenden der MSC, Botschafter Christoph Heusgen, auf der der MSC vorangehenden Pressekonferenz prägte das gesamte Treffen.
Ebenso wie Aussagen des Außenbeauftragten der EU Josep Borrell „Wir sind im Krieg“ und eine während der MSC zitierte, offenbar von ihm im ukrainischen Parlament getätigte Aussage „Wir unterstützen die Ukraine mit allem, was es braucht, damit die Ukraine gewinnt.“
Der Titel des MSC-Berichts 2024 „Lose-Lose?“ beschreibt eine Art Teufelskreis, da viele Menschen weltweit derzeit glauben, im Vergleich zu anderen zu verlieren. Mangels konstruktiver Vorstellungskraft war die MSC entsprechend bemüht, die westlichen Reihen zu wachsender militärischer Stärke zu schließen.
2. Der globale Süden wehrt sich selbstbewusst gegen westliche Vereinnahmung
Der u.a. von Josep Borrell offen geäußerte Versuch, globale Südpartner im Ringen des „Global West“ gegen den „Global East“ (Russland und China) auf die Seite des Westens zu ziehen, wurde und wird von diesen selbstbewusst zurückgewiesen. Vertreter*innen sicherheitspolitischer Think Tanks aus dem Globalen Süden wiesen darauf hin, dass sie sich von Vertreter*innen des Westens immer noch von oben herab angesprochen fühlen.
Eine ehemalige Außenministerin Pakistans hat wie mehrere Friedensaktivist*innen aus Israel und anderen Teilen der Welt in den interaktiven Debatten betont, dass weitere Aufrüstung keine der weltweit dringenden Herausforderungen löst, sondern deren Lösung entscheidend erschwert.
An der MSC haben auch 8 Friedensnobelpreisträger*innen teilgenommen und realistische Möglichkeiten zum Paradigmenwechsel eingebracht. So hat der ehemalige Präsident Kolumbiens, Santos, überzeugend seinen inneren und äußeren Weg von militärischer Sicherheits- zur Friedenslogik beschrieben.
3. Dämmernde Ratlosigkeit
Es war zu spüren, dass es vielen Verantwortlichen mindestens unter der Oberfläche dämmert, dass es mit den alten militärischen Rezepten nicht mehr lange weiter gehen kann. tagesschau.de titelte zur MSC entsprechend „Viel Ratlosigkeit“. Auf dem Abschlusspodium wurde das u.a. von der Finanz- und Wirtschaftsministerin Islands ausgesprochen: „Der Krieg in der Ukraine ist ein altmodischer Krieg. Wir brauchen Innovationen, um die weltweiten Herausforderungen zu bewältigen.“
Entgegen den auch auf der MSC lauten Stimmen aus Medien und Politik, die eine weitere militärische Aufrüstung auf weit über 2 % unserer Wirtschaftsleistung fordern, haben Bundesfinanzminister Lindner und Bundeskanzler Scholz deutlich moderatere Töne angeschlagen und keine weitere Erhöhung der Militärausgaben in Aussicht gestellt.
4. Das Aufscheinen weitsichtiger konstruktiver Konfliktbearbeitung – u.a. bezüglich des Krieges in Israel/Palästina
Neben hochkompetenten Austäuschen zahlreicher afrikanischer Vertreter*innen zur konstruktiven Bearbeitung von Konflikten in Afrika und dazu hilfreicher Unterstützung habe ich zu meiner Überraschung durchgehend einen sehr hochwertigen, fast idealen Dialog zum Israel-Palästina-Konflikt erlebt:
Die ehemalige Außenministerin Israels, Livni, und anwesende Angehörige der von der Hamas genommenen Geiseln konnten ihre traumatischen Erfahrungen ebenso vortragen wie der Premierminister Palästinas. Die Siedlergewalt in der Westbank wurde ebenso angesprochen wie das Sicherheitsbedürfnis aller Israelis und aller Palästinenser*innen.
Besonders überrascht hat mich das überzeugend konstruktive Auftreten des saudi-arabischen Außenministers Al Saud. Nahezu alle Beteiligten, darunter fast alle Außenminister der an einer möglichen Lösung beteiligten Staaten der Region, der USA, der EU und Indiens, sprachen überzeugend und glaubhaft von der Notwendigkeit der sofortigen Beendigung des Kriegs und der Schaffung dauerhaft wirksamer Sicherheitsperspektiven für Israel und Palästina u.a. in Form eines palästinensischen Staates – notfalls auch ohne Zustimmung des traumatisierten Israel.
Josep Borrell betonte, dass Hamas eine Idee ist, die man als Idee nicht töten kann. Es brauche eine bessere Idee. Ein ehemaliger israelischer Botschafter brachte sich ebenso als Friedensaktivist ein wie eine Vertreterin der Women Wage Peace aus Israel. Hinsichtlich des Israel/Palästina-Kriegs wagten westliche Vertreter*innen auch eine selbstkritische Betrachtung eigener Versäumnisse in der Vergangenheit.
Diese Art selbstkritischer Reflektion eigener Anteile des Westens an der gewaltvollen Konflikteskalation in der Ukraine war während der MSC nicht zu beobachten. Botschafter Heusgen betonte immerhin in der Pressekonferenz, dass der Ukrainekrieg nur durch Verhandlungen zu beenden sei, die sich an den Abkommen von Minsk orientieren könnten.
Parallel zu Veranstaltungen zum Thema „Militärischer Zeitgeist“ gab es auch Veranstaltungen zu Zivilem Widerstand in Belarus und den Möglichkeiten, diesen aus dem Ausland zu unterstützen. Angesichts des Framings (also der Einrahmung) dieses zivilen Widerstands in die weltweite militärische Dominanzpolitik der USA wurde die mögliche Kraft gewaltfreien Widerstands allerdings nicht sichtbar.
5. Erweiterter Sicherheitsbegriff als Markenkern der MSC
Inzwischen gehört der erweiterte Sicherheitsbegriff zum sichtbaren und öffentlich vertretenen Markenkern der MSC. Themen wie Klima-, Ernährungs- und Verschuldungssicherheit werden selbstverständlich mitgesehen und -diskutiert. Das war vor 20 Jahren deutlich anders. Die inzwischen 27 % Teilnehmenden aus dem Globalen Süden, die selbstbewusst ihre Perspektiven mit einbringen, sind sicher mit auf die Arbeit des MSKv zurückzuführen. Dass auf der MSC inzwischen 50 % Frauen sprechen, sehe ich als weitere sehr positive Entwicklung – auch wenn viele westliche (Premier-) Minister*innen unter ihnen derzeit leider sogar mehr als ihre männlichen Gesprächspartner in militärischer Aufrüstungslogik verfangen erscheinen.
6. Konkrete Schritte Richtung Sicherheit neu denken
Während der MSC konnte ich mich sowohl länger mit dem Chefredakteur einer großen deutschen Tageszeitung als auch mit dem Sekretär der Int. Konferenz der Große-Seen-Region in Afrika über den notwendigen Paradigmenwechsel von militärischer zu ziviler Sicherheitspolitik austauschen. Dabei konnten wir eine konkrete Zusammenarbeit der Int. Konferenz der afrikanischen Große-Seen-Region mit der Friedensuniversität Afrika zur Erarbeitung eines Rethinking-Security-Szenarios für die Region vereinbaren.
Darüber hinaus will sich eine Vertreterin der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten und Friedenskonsolidierung (DPPA) der UNO gemeinsam mit uns für eine Weiterentwicklung der MSC in Richtung Sicherheit neu denken einsetzen.
Beachten Sie bitte auch mein Interview mit “nd-aktuell”: Interview mit nd
Ralf Becker koordiniert die in Deutschland und Europa von 150 Organisationen getragene zivilgesellschaftliche Initiative „sicherheitneudenken.de – von militärischer zu ziviler Sicherheitspolitik“.